Mut zur Unsicherheit
Ich habe letztens bereits von meinem Abenteuer auf dem Jakobsweg berichtet. Woran ich mich dabei auch gut erinnere ist eine Zwischenstation in einem Nonnenkonvent.
Als ich dort eintraf ging es mir wirklich nicht gut. In den vorigen Herbergen hatte man mich teilweise nicht sehr gut behandelt, was daran lag, dass ich sehr allergisch auf Insektenstiche reagierte und völlig zerstochen aussah. Man vermutete, dass ich selbst quasi eine monstergroße Herberge für Bettwanzen war. Ich war mir anfänglich recht sicher gewesen, dass das nicht der Fall ist, denn die meisten Stiche und damit verbundenen Reaktionen passierten am Tag. Aber je öfter ich den Blicken ausgesetzt war und je öfter ich auch zwangsdesinfiziert wurde, desto mehr begann ich selbst zu zweifeln. Die Unsicherheit wurde mit jeder Etappe größer. Insbesondere in der vorigen Herberge hatte man mir auch recht deutlich zu verstehen gegeben, dass man mich eigentlich nicht dort haben wolle und man nur eine Ausnahme mache. Falls sich an dieser Stelle jemand Gedanken drüber macht, wie auf einem christlichen Pilgerweg miteinander umgegangen wird: verstehe ich.
Ich kam also im Konvent an und trat die Flucht nach vorne an: ich sagte, dass ich womöglich Bettwanzen habe, dass ich gerne bereit wäre mich erneut desinfizieren zu lassen, dass ich aber trotzdem hoffe, man würde mich nicht wegschicken, denn ich wäre absolut müde und kaputt. In Wirklichkeit war ich vor allem auch niedergeschlagen und hatte das Gefühl ich wäre falsch auf dem Weg. Ich fühlte mich allein und ich schämte mich. Vor allem schämte ich mich.
Mut zur Unsicherheit wird belohnt
Das erste an was ich mich erinnere, nach meiner Flucht nach vorn, war das von Herzen kommende Lächeln dieser Nonnen. Und man glaube gar nicht daran, dass ich Bettwanzen habe. Die Nonnen inspizierten dennoch meine Habseligkeiten, insbesondere meinen Schlafsack und fanden – wie erwartet – nicht den kleinsten Hinweis auf Bettwanzen.
Ich wurde mehr als herzlich aufgenommen und finde auch heute kaum Worte dafür, was an diesem Ort passierte und was es mit mir machte. Am Abend half ich beim Geschirrspülen und fing an Taizé-Lieder vor mich hinzusummen. Eine der Nonnen gesellte sich zu mir um Abzutrocknen und fing an die Lieder mitzusingen. Es endete damit, dass wir eine halbe Stunde lang beide aus vollem Herzen Taizé-Lieder sangen.
Es ist mit Abstand meine beste Erinnerung an diesen Weg. Denn es war das erste Mal nach zwei Wochen, dass ich mich richtig fühlte. Dass ich mich auf dem Weg richtig fühlte. Dass ich überhaupt das Gefühl hatte, ich dürfte hier sein. Und dass es nicht nur Qual und Kampf sein muss, sondern dass es sich zwischendurch auch mal gut anfühlen darf. Ich fühlte mich aufgenommen und angenommen. Es war ein absolut warmes, mutmachendes Gefühl, dass mich noch am nächsten Morgen bei meinem Aufbruch begleitete und noch viele Tage danach. Die Freundlichkeit und Wärme der Nonnen hat meinen Weg verändert.
Mut lernen
In dieser Geschichte – und sie ist wirklich wahr – steckt Vieles drin. Vor allem die Erkenntnis, wie wichtig es ist, gerade in den Momenten, in denen man sich unsicher und schwach fühlt, ungenügend und klein, doch einen Schritt dahin zu tun um Hilfe zu bitten und sich jemanden anzuvertrauen. Es ist nicht leicht ausgerechnet dann, wenn wir so unsicher sind, mutig zu sein. Wenn wir uns klein, ungenügend, fehl am Platz oder unzureichend fühlen, ist es meist leichter sich zu verstecken. Die Unsicherheit gleich mit verstecken zu wollen. Ich spreche aus jahrelanger eigener Erfahrung. Und damals habe ich aus dieser kleinen Begebenheit leider nicht etwas für mein Leben gelernt, das hole ich jetzt erst nach. Uns gegenseitig zu zeigen wie wir sind, ist mutig. Um Hilfe bitten ist mutig. Und manchmal kommen wir nur ans Ziel, wenn wir uns trauen eben diesen Mut aufzubringen.
Woran glaube ich?
Manch einer wird sich fragen, ob ich ein gläubiger Mensch bin. Nein, das bin ich nicht. Oder besser: nicht mehr. Ich war es viele Jahre meines Lebens, habe aber meinen (christlichen) Glauben verloren. Es hat wohl viel damit zu tun, dass ich beschloss vernünftig zu werden, dass ich das Gefühl kultivierte, man kann sich sowieso nur auf sich selbst verlassen. Und überhaupt, dass man in den heutigen Zeiten eigentlich gar nicht glauben kann oder sollte. Vielleicht fehlte mir auch in diesem Punkt irgendwann der Mut zur Unsicherheit.
Dieser Glaube hat mir aber dennoch lange Zeit gefehlt. Der Trost, den ich den meditativen Taizé-Liedern fand oder in schönen Begegnungen mit warmen, gläubigen Menschen, ist mir abhanden gekommen, auch weil ich mich nicht mehr solchen Menschen umgab. Da ich so aufgeklärt und vernünftig war, hätte ich mich wohl ebenfalls für meinen Glauben und mein Festhalten daran, geschämt.
Meinen christlichen Glauben werde ich wahrscheinlich nicht wiedererlangen. Aber ich beginne, mich nicht mehr für eine andere Art des Glaubens zu schämen und auch hier den Mut zur Unsicherheit aufzubringen. Ich glaube an die Verbundenheit zwischen Menschen. Ich glaube, dass wir alle dazugehören wollen. Glaube an den Wert von Menschen und an ihre Fähigkeit mutig zu sein. Ich bin überzeugt, dass man anderen Menschen oft mehr vertrauen sollte (ohne blind oder völlig unvorsichtig zu werden). Ich glaube, dass wir uns Liebe, Vertrauen und Zugehörigkeit nicht verdienen oder erarbeiten müssen.
Und hier findet sich dann auch eine Parallele zum klassischen christlichen Glauben, denn auch dort müssen wir uns die Liebe nicht verdienen, sie ist einfach da. Wir sind genug, trotz all unserer Fehler. Und wenn wir wirklich mal was falsch machen, dann können wir um Verzeihung bitten. Oder um Hilfe.
Aber unsere Fehler und Unzulänglichkeiten bestimmen nicht unseren Wert.
Übrigens wurde ich in der folgenden Herberge erneut zwangsdesinfiziert. Und auf einer späteren Etappe wurde ich so stark von Bremsen zerstochen bzw. reagierte so allergisch darauf, dass ich sogar einen kleinen Zwischenstopp in einem spanischen Krankenhaus einlegen musste. Bettwanzen hatte ich hingegen in den sechs Wochen nicht einmal. Und als ich am Ziel in Santiago ankam habe ich auf den letzten Kilometern Taizé-Lieder gesungen… Ziemlich laut sogar!
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Wer sich die ganze Zeit gefragt hat, was Taizé-Lieder sind: es sind christliche Gesänge aus Taizé, die aufgrund ihrer Einfachheit und vielen Sprachen einen beinahe meditativen Charakter entfalten können. Sie werden oft in der Kirche gesungen, eines der bekanntesten Lieder ist wahrscheinlich „Laudate omnes gentes“.