Gastbeitrag: Wandern und Achtsamkeit
Ein kühler Wind weht. Tiefe, dunkle Wolken hängen am Horizont. Jeder Schritt wird von einem schmatzenden Geräusch des Matsches auf dem Pfad begleitet. Der Rucksack steigert gefühlt sein Gewicht mit jedem Meter. Und doch kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Tag 7 auf dem Arctic Circle Trail (kurz „ACT“) in Grönland. Der Langstreckenwanderweg führt 170km durch die grönländische Wildnis. Allmählich rückt das Ziel näher. In einer Woche haben wir über 100km zu Fuß zurückgelegt. Bepackt mit einem schweren Rucksack. Darin steckt alles, was wir zum Überleben brauchen. Wir kamen vom Weg ab, liefen in die falsche Richtung, verloren bei der Suche nach einer Brücke die Orientierung. Bereits am ersten Tag mussten wir entscheiden, ob wir den Weg wirklich weiter laufen wollen oder doch abbrechen: Von drei Gaskartuschen passte nur eine an den Kocher. Regen weichte den Boden der arktischen Tundra auf. Der Untergrund lief sich mit jedem Tag schlechter.
Und doch gehört die Wanderung auf dem ACT zu einer der schönsten Erfahrungen in meinem Leben. Gerade wegen der Schwierigkeiten und einiger Fehler. Denn am Ende überwog das Glücksgefühl. Ich habe es geschafft. Und dabei um mich herum alles Belastende vergessen. Ich lebte 9 Tage lang nur in der Gegenwart. Ich lernte mich ganz neu kennen. Und war überrascht, was ich leisten kann. Auf dem Arctic Circle Trail erkannte ich außerdem die intensive Verbindung zwischen Achtsamkeit und Wandern.
Wandern und Achtsamkeit
Alles, was es braucht um glücklich zu sein: Rucksack, Wanderstiefel, Kaffeetasse, Känguru.
Wandern und Achtsamkeit haben eine Menge Gemeinsamkeiten. Seit 2013 setze ich mich mit Achtsamkeit auseinander. Eine erste und heftige depressive Episode warf mich unvermittelt und plötzlich komplett aus der Bahn. Es wurde Zeit, mehr auf mich selbst zu achten. Also setzte ich mich mit der Methode der Achtsamkeit auseinander. Bis heute nutze ich Achtsamkeitsmethoden, um depressive Episoden abzuschwächen oder zu umgehen. Eine meiner Methoden ist eine jährliche, mehrtägige Wanderung im hohen (sub-)arktischen Norden. Dabei lade ich meinen Akku für den anstehenden Herbst auf.
Durch verschiedene Zufälle traf ich 2016 auf meinen Wanderkumpel. Bereits auf unserer ersten Trekkingtour in Island, bemerkte ich eine enge Verbindung zwischen Achtsamkeit und Wandern. Weitere Touren halfen mir in schwierigen Phasen und bei weitreichenden Entscheidungen.
Und hier will ich dir nun zeigen, weshalb Wandern für mich zu den Achtsamkeitsmethoden schlechthin zählt. Zunächst aber ein kurzer Überblick über das Thema „Achtsamkeit und Depressionen“. 🙂
Achtsamkeit und Depression
Depressionen entstehen durch eine dauerhafte Überlastung. Der Körper steht unter Stress und befindet sich im „Kampf oder Flucht“-Modus. Irgendwann wird es zuviel. Durch die ständige Alarmbereitschaft reagiert der Körper über. Es reichen Kleinigkeiten, um dich völlig aus dem Konzept zu bringen und zu überfordern. Oftmals sind diese Kleinigkeiten nicht real, sondern entspringen nur unserer Phantasie oder entstehen durch die (Über)Interpretation von menschlichem Verhalten.
Mit Hilfe von Achtsamkeitsmethoden lernst du, dich ganz auf die Gegenwart zu konzentrieren. Mir hilft in stressigen Situationen die Augen zu schließen und mich aufs Hören zu konzentrieren. Ich versuche die Vielfalt an Geräuschen bewusst wahrzunehmen. Es ist absolut erstaunlich, wie facettenreich die Klangwelt ist. Diese kurzen Momente helfen mir, mich sehr schnell wieder zu erden. Meist stelle ich nach so einem kurzen Moment fest, dass die Stressoren gar nicht so dramatisch sind.
Von diesen Methoden gibt es einige. Und alle zielen darauf ab, dich wieder in die Gegenwart zu holen. Mit ein wenig Übung verschwinden die (unnötigen) stressigen Gedanken. Was mir übrigens in unangenehmen Situationen auch hilft: Ich erinnere mich an schöne Erlebnisse, wie beispielsweise meine Wanderungen. Daraus ziehe ich ganz viel Selbstbewusstsein und lasse mich schwerer verunsichern und stressen. So, wo haben nun aber Achtsamkeit und Wandern enge Berührungspunkte?
Beim Wandern nimmst du die Natur um dich ungefiltert wahr
Fast anderthalb Tage lang liefen wir in Grönland am Ufer eines Sees entlang. Die Vegetation sorgt dabei auf den ersten Blick für wenig Abwechslung. Und doch entfaltet sich vor unseren Augen eine wundervolle Pflanzenwelt. Hochspezialisiert überlebt sie in einer der lebensfeindlichsten Regionen der Erde. Das langsame Wandertempo ermöglicht uns, diese Flora intensiv wahrzunehmen. Wir haben jede Menge Zeit, die Natur zu bewundern. Und in kleinen Pausen genießen wir die herrliche, natürliche Stille.
Aber nicht nur die Pflanzenwelt beeindruckt: Auch die Tierwelt ist hier oben hart im Nehmen. Ich kann den Überlebenswillen der Mosquitos nur bewundern. Selbst unter den Beckengurt meines Rucksacks sind sie geflogen um Blut zu tanken. Und auch einige Rentiere sahen wir. Eins davon aus anderthalb Metern Entfernung… 🙂 Es hätte nicht viel gefehlt und es hätte uns über den Haufen gerannt.
All das sorgt dafür, dass wir unseren Alltag außerhalb Grönlands bereits nach den ersten zwei Kilometern völlig vergessen. Die vielen Eindrücke brachten uns in kürzester Zeit in die bezaubernde Natur Grönlands. Und das ging uns nicht nur dort so. Ebenso eindrücklich war der Sarek Nationalpark in Nordschweden. In beiden Regionen hatten wir übrigens auch keinerlei Handyempfang. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase sehr befreiend.
Fotos vom Arctic Circle Trail
©Konrad Paul (www.nordwinkel.de)
Wandern bedeutet Reduktion auf das Wesentliche
Doch reduziert das Wandern nicht nur materiell: innerhalb kürzester Zeit kreisen meine Gedanken nur noch um existentiellen Sachen: Essen, Laufen, Schlafen. Ängste und Sorgen verflüchtigen sich. Ich setze mich nur noch mit realen Dingen auseinander: Wegplanung, Wetterbeobachtung, Zeltplatzsuche. Na ja, und der Entscheidung, welches Trekkinggericht ich mir am Abend munden lassen werde… 🙂
Sorgen tauchen natürlich auch auf. Aber sie gelten realen Dingen. In den meisten Fällen dem Wetterbericht bzw. den Wetterbeobachtungen. Und auch wenn Wandern im Regen mäßig Spaß bringt: Es gehört einfach dazu.
Wenn du in der Wildnis des hohen Nordens unterwegs bist, triffst du nur wenige Menschen (zumindest abseits der populärsten Wanderwege). Und wenn es zu Treffen kommt, kreisen die Gespräche um’s Wetter, die Wegbeschaffenheit und den Wasserstand bei bevorstehenden Flussquerungen. Ich empfinde das als herrlich unkompliziert. Beim Wandern zählen Erfahrung, Geschichten und Erlebnisse. Und übrigens: Gerade als Anfänger habe ich eigentlich nur positive Erfahrungen mit anderen Wanderer*innen gemacht. Ein grundlegend angenehmer und hilfsbereiter Schlag Mensch.
Wandern bedeutet Ruhe und Einsamkeit
Selbst auf dem Laugavegur (im Wandererjargon auch „Laugaautobahn“ genannt) fand ich immer wieder Plätzchen, in denen ich die völlige Ruhe und Einsamkeit der Natur genießen konnte. Kein Stimmengewirr, kein Maschinenlärm, nur der pfeifende Wind und ein rauschender Fluss.
Wandern heißt verhältnismäßig langsam voran zu kommen. Das beruhigt den Kopf, allerdings nicht die Beine.:) Die haben Schwerstarbeit zu leisten. Durch die gemächliche Geschwindigkeit habe ich reichlich Zeit, meine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Im Sarek wanderten wir einmal nur einen halben Tag. die zweite Hälfte nutzten wir, um uns auszuschlafen. Und drei Stunden lang erfolglos ein kleines Lagerfeuer zu entfachen.
Genug Möglichkeiten für den Geist also, sich von der Reizüberflutung im Alltag zu erholen. Das ruhige Tempo unterstützt dich dabei. Du rauschst nicht durch die Landschaft, wie beim Autofahren. Sondern Stück für Stück wirst du ein Teil davon. Mir half diese Erfahrung meine Probleme in die richtige Relation zu bringen. Vor riesigen Bergwänden, die Jahrtausende überdauerten, werden einige Themen erstaunlich klein. Und das sorgt bei mir für sehr viel Gelassenheit. 🙂 Hier kann ich auch allein sein. Es stört mich nicht.
Wandern heißt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen
Beim Wandern achtest du ganz automatisch auf die Signale deines Körpers. Und du wirst überrascht sein, was du leisten kannst. Denn häufig schränkt dich nicht dein Körper ein. Sondern deine Psyche setzt willkürliche Grenzen. Hätte mir jemand vor dem Sarek gesagt, dass ich ein fast senkrechtes Geröllfeld nach dem Regen emporklettern würde, hätte ich ihm direkt einen Vogel gezeigt. Denn meine Höhenangst machte mir schon häufig schwer zu schaffen.
Und doch haben wir diese Herausforderung gemeistert. Zwar haben wir geflucht, gezetert und dachten mehr als einmal ans Umkehren. Aber auch diese Tortur hatte schließlich ein Ende. Ob ich diese Passage noch einmal gehen würde, weiß ich nicht. Aber im Rückblick überwiegt der Stolz, diese Herausforderung überwunden zu haben.
Die Ruhe und die Natur lassen dir den Raum, dich auf sich selbst zu konzentrieren. Höre auf deinen Körper. Lass‘ deinen Gedanken freien Raum. Du wirst sehen, sie kommen und gehen. Negative wie positive Gedanken. Und du hast jede Menge Zeit zu entscheiden, welche Gedanken du festhalten möchtest.
Eine Wanderung lehrt Ruhe, Gelassenheit und Geduld
Ich will dir keine Illusionen machen: Beim Wandern triffst du auf Herausforderungen und Schwierigkeiten. Da kann deine Planung noch so gut sein. Kleines Beispiel: 2020 waren wir das vierte Mal auf Trekkingtour. Ich bildete mir ein, wir hätten mittlerweile Routine. Einkaufen, vorbereiten und packen liefen reibungslos. Bis wir an einem herrlichen Zeltplatz bemerkten, dass ich die Zeltstangen verloren hatte. Nach dem ich mich abreagierte hatte, schmiedeten wir einen Plan um die Tour zu retten. Der funktionierte dann auch. In Grönland erlebten wir ähnliches, ich erwähnte die falschen Kartuschen bereits.
Zur Gelassenheit gesellt sich die Geduld. Sachen in Ruhe und gewissenhaft zu erledigen, verhindert Missgeschicke. Auch hier ein kleines Beispiel:
Nach anstrengendem Wandern durch dichtes Unterholz im Sarek fanden wir einen herrlichen Zeltplatz. Allerdings fanden wir in unmittelbarer Umgebung kein frisches Wasser. Das Flussufer wirkte zu steil. Statt unsere Umgebung ein wenig genauer abzusuchen, starrten wir auf die Karte. Wir entschlossen uns weiter zu laufen. Zum dichten Unterholz kam knietiefer Matsch auf dem Pfad dazu. Nach einer halben Stunde fanden wir immer noch kein frisches Wasser und auch keinen Zeltplatz. Wir kehrten um und begannen das Zelt aufzubauen. Im Anschluss lief ich ein wenig an der Uferkante herum. Dort entdeckte ich einen Pfad zum Fluß. Es kostete mich keine 30 Sekunden und ich stand direkt am Ufer. Große Steine machten das Wasser schöpfen sehr einfach.
Hätten wir einen Moment genauer hingesehen, hätten wir uns eine gute Stunde üblen Matschwanderns gespart.
Fazit: Wandern = Achtsamkeit
Wie du siehst, Wandern hat tatsächlich ganz viel mit Achtsamkeit zu tun. Gleichzeitig lehrt dich die Natur, deine Ängste, Sorgen und Nöte in einer anderen Relation zu sehen. Durch das Wandern verschwindet die Hektik des Alltags. Das langsame Tempo und die körperliche Anstrengung lassen dich häufig innehalten. So erhältst du die Möglichkeit, dich intensiv mit deiner Umgebung auseinanderzusetzen.
Auch wirst du sehr viel Zeit haben dich mit dir selbst auseinanderzusetzen. Die körperliche Anstrengung sorgt dafür, dass du dich fast nur noch mit deiner Gegenwart beschäftigen wirst. Die Grundbedürfnisse Laufen, Essen, Schlafen stehen im Vordergrund. Der Gedankenfokus verschiebt sich.
Und es gibt noch weitere Vorteile: Durch das Wandern schaffst du dir Erlebnisse, die deinen Selbstwert stärken. Du lernst, auf die Signale deines Körpers zu hören, wirst Ängste überwinden und die Ruhe der Natur wird dich noch weit über deine Wanderung hinaus im Alltag tragen.
Mehr von Konrad Paul und den ACT findet Ihr auf seiner Seite: Nordwinkel.de
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2 Comments
Claudia Gund
Ein sehr schöner Artikel, vielen Dank dafür.
Ich hatte selbst einen Burnout vor einigen Jahren und in dieser Zeit war ich nur selten wandern und habe kaum mehr Sport getrieben. Dabei hat der liebe Gott uns alles bereitgestellt, was wir brauchen – zum Leben, für die Gesundheit und die Seele. Sich einzulassen auf die Natur hilft sehr dabei, bei sich selbst zu sein – und wenn man keine Erfahrung im Wandern hat, tut es ein schöner Spaziergang auch. ?
Annette (KompassZeit)
Hallo Claudia!
Da hast Du vollkommen Recht. Auch ich gehe gerne wandern und spazieren. In der Zeit während meiner Depression und vor meinem Burnout hatte ich das allerdings auch vergessen. Daher freue ich mich auch über den Gastbeitrag, denn er erinnert sehr schön daran, dass Natur und Bewegung zwar nicht das einzige Mittel, aber ein sehr guter und wichtiger Baustein für die Genesung sein können.