Irrtum 1: Sich alles verdienen müssen
In einem Zitat von Margaret Young heißt es: „Menschen unternehmen häufig den Versuch, ihr Leben rückwärts zu leben: Sie streben danach mehr Dinge oder mehr Geld zu besitzen, um mehr von dem Tun zu können, was sie wirklich wollen, um auf diese Weise glücklicher zu werden. Eigentlich funktioniert es aber genau anders herum. Du musst zuerst sein, wer Du wirklich bist, dann das tun, was du wirklich tun willst, um das zu bekommen, was du dir wünschst.“
Dieses Zitat widerspricht meiner ganzen Erziehung.
Ich höre noch die dröhnende Stimme meines Vaters, der mir immer wieder beibrachte: „Wenn man etwas haben will, dann muss man auch was dafür tun.“ Er tat das auf verschiedene Weisen. Tut es bis heute.
Dabei spielte es keine Rolle, ob man in Vorleistung ging. Also erst etwas gab und dann dafür etwas erwarten konnte. Oder umgekehrt ob man sich revanchierte, wenn man etwas bekam. Wichtig war wohl nur, dass das Leben im Grunde ein „dit for dat“ ist. Es gibt nichts umsonst. Du musst es Dir verdienen!
„Dit for dat“
Bei dinglichen Sachen ist das noch unproblematisch. Wenn Du mir ein Geburtstagsgeschenk gibst, dann gebe ich Dir auch eines. Wenn ich Dir beim Umzug helfe, dann erwarte ich auch Hilfe von Dir.
Die meisten von uns finden das wahrscheinlich völlig ok. Es ist ja irgendwie auch gerecht, das System ausgeglichen.
Schwieriger wird es hingegen, wenn es um Nicht-Dingliches geht. Wenn man jemand umarmt, muss ich ihn/sie dann auch umarmen? Wenn mich jemand mag, muss ich denjenigen auch mögen?
Und in den Tiefen dieser Lebensüberzeugungen warten noch ganz andere Hürden. Wer mit dieser Lebensphilosophie sein Leben bestreitet weiß: die Liebe, den Respekt, das Vertrauen und die Anerkennung anderer Menschen muss ich mir erst verdienen. Und umgekehrt auch. Meine Liebe, meinen Respekt, mein Vertrauen und meine Anerkennung muss man sich erst verdienen.
Wieviel ist genug?
Die wirklich problematische Frage im Hintergrund dabei ist: womit eigentlich?
Womit verdienen wir uns Liebe, Zuneigung, Vertrauen, Respekt oder Anerkennung?
Aus Erfahrung kann ich sagen: in dem Versuch das herauszufinden, kann man sich aufreiben. Denn wenn man schon nicht weiß, was es genau ist, dann gibt es auch kein Maß dafür.
Zum einen ist nicht jeder Mensch gleich gestrickt. Was der eine braucht um sich geliebt oder gewertschätzt zu fühlen, ist dem anderen viel unwichtiger. Zum Anderen gibt es keine Messgrenzen. Wir können das Helfen beim Umziehen zählen, wir können verliehenes Geld zählen, wir können auch die Zahl der Umarmungen oder die Zahl von Orgasmen zählen. Aber wir haben keine Möglichkeit wirklich abzuschätzen, ob uns jemand anders genauso liebt wie wir den anderen.
Die sichere Position ist daher, von allem auf jeden Fall nicht zu viel zu geben. Ich zeige mich nur so verletzlich, wie Du Dich auch. Liebe nur so viel, dass es nicht unangenehm und peinlich wird, wenn es Dir nicht ganz so geht. Vertraue Dir so viel, dass Du es nicht mißbrauchen kannst.
Und so gehe ich durch mein Leben und versuche mir alles zu verdienen. Die Liebe, das Vertrauen und den Respekt. Die Anerkennung und die Zustimmung.
Und ich versuche mir auch das Leben zu verdienen. Genauer: mein Leben. Ich bin der Prototyp, von dem was Margaret Young beschreibt. Ich bin der Mensch, der sagt: wenn ich A erreiche, dann habe ich mir das Recht erworben B zu wollen. Wenn ich genug Geld habe und niemanden mehr was beweisen muss, dann kann ich endlich mal so sein wie ich bin.
Das Recht zu sein, zu sein wer ich bin, muss ich mir erst verdienen. Das Recht zu tun, was ich will wirklich tun will, muss ich mir erst verdienen. Glücklich zu sein, das muss ich mir erst verdienen.
Wenn ich das Zitat lese, dann bildet sich ein Klumpen in meinem Hals. Es entfaltet eine tiefe Sehnsucht in mir. Die damit endet, dass ich mir die Frage stelle, die ich mir schon öfter in meinem Leben gestellt habe: Kann ich so sein, wie ich bin?
Ich spüre, dass Wahrheit in dem steckt, was sie sagt. Die letzten Jahre habe ich hart daran gearbeitet irgendwann mal das Leben zu haben, dass ich mir wünsche. Oft habe ich mich dabei auch noch in die Irre führen lassen. Ich dachte beispielsweise, dass ich mehr Geld wollen würde. Damit ich mir all die Dinge leisten kann, die ein erfolgreicher Mensch sich nun mal verdient. Vielleicht auch damit jeder sehen kann, dass ich bereits etwas geleistet habe. Und auch damit ich hineinpasse, dazugehöre. Damit ich mich normal finden kann. Denn ist das nicht das, was die meisten um uns herum tun? Mehr oder härter arbeiten, um sich mehr oder teurere Dinge kaufen zu können? Für mich hat das noch nie besonders viel Sinn gemacht. Aber ich habe es mitgemacht. Ich dachte, wenn ich eine Karriere hätte, also Geld und Verantwortung, dann bekomme ich genau das, was ich immer wollte. Dann macht das Leben einen Sinn.
Was ich bekam hingegen bekam war eine Menge Unzufriedenheit. Und schließlich eine Depression. Und einen Burn-Out. Die Depression war sicherlich viel früher da. Denn sie hatte Jahre, um in mich hineinzukriechen.
Ihr Futter war (unter anderem) der nicht-vorhandene Mut zu sein, wer ich bin. Konnte ich auch nicht, denn ich hatte es mir ja noch nicht verdient. Ihr Futter ist das Anlegen von Maßstäben anderer. Die zu den eigenen Maßstäben werden und sich trotzdem nie richtig anfühlen. Ihr Futter war die konstante Selbstbewertung und das immerwährende Gefühl, dass ich mir „nichts einbilden soll“. Dass ich dankbar sein sollte für das was ich habe und dass ich mir mehr eben erst verdienen müsste.
Vom Verdienen verabschieden
Ich trenne mich jetzt vom „es sich verdienen müssen“. Und das heißt nicht, dass ich jetzt durch mein Leben laufe und denke „ich habe alles verdient, einfach weil ich bin“. Es gibt unzählige Selbstaffirmationen, die einem genau das stattdessen suggerieren wollen. Auch daran will ich nicht glauben. Ich will gar nichts verdienen. Ich will mich vom Verdienen verabschieden und einfach Sein. Möchte etwas geben, nämlich mein authentisches Ich. So gut wie möglich. Und leicht wird das nicht. Wahrscheinlich ist es ein unerreichbares Ziel. Aber wie wir den Weg beschreiten erscheint mir wichtiger als die Frage, ob wir irgendwo ankommen.
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